Anspruchsvolle IT-Projekte: Mit Komplexität umgehen lernen
An größeren IT-Projekten sind viele Stakeholder beteiligt. Geschäftsführung und Rechtsabteilung bringen sich ein, Kund:innen und Anwender:innen haben eigene Vorstellungen und verschiedene Teammitglieder liefern zusätzlichen Input. Miteinander verbundene Fragen müssen beantwortet werden: Welches Ziel wird zuerst angesteuert? Welche KPIs sind wodurch zu erreichen? Wer ist für welchen Bereich verantwortlich? Was wird vom Budget abgedeckt? IT-Leiter:innen, bei denen die Fäden zusammenlaufen, stehen damit vor komplexen Aufgaben.
Komplexität in Projekten – Definition
Herausforderungen als komplex zu beschreiben, ist heutzutage durchaus beliebt. Fast scheint es so, als ob Komplexität ein vollkommen neues Phänomen sei, das mit der Globalisierung und Digitalisierung zusammenhängt. Dabei ist Komplexität seit jeher ein inhärentes Merkmal unseres Lebens. Mehr noch: Was komplex genannt wird, ist oft zunächst nur einmal kompliziert, denn auch vielschichtige, miteinander zusammenhängende Sachverhalte lassen sich zuletzt durchdringen – und damit vorhersagen. omplexität entsteht durch zusätzliche Unsicherheitsfaktoren und unkalkulierbare Variablen, die die Rahmenbedingungen verändern.
Der britische Organisationstheoretiker und Professor für Management an der Hertfordshire Business School Ralph D. Stacey entwickelte dazu eine anschauliche Matrix. Sie basiert auf dem Zusammenspiel zweier Achsen: Vertikal lassen sich die angestrebten Ziele verorten – von klar bis unklar. Horizontal die Art und Weise, wie die Ziele zu erreichen sind – ebenfalls von klar bis unklar. Je nach Grad der Unklarheiten in beiden Dimensionen, lassen sich Projekte als einfach, kompliziert, komplex oder chaotisch beschreiben. Moderne IT-Projekte bieten viele Quellen für solche Unklarheiten. Schon die Entwicklung von Innovationen an sich ist unberechenbar, denn der Innovationsprozess erzeugt ständig neues Wissen auf noch unbekanntem Terrain. Aber auch die Arbeit in interdisziplinären, selbstorganisierten Teams ist mehr als kompliziert. Hier sorgen unvorhersehbare soziale und kulturelle Faktoren für Komplexität.
Wie kann dieser Komplexität begegnet werden?
Wer die Sicherheit von klaren Soll-Vorgaben, Richtlinien und Quality Gates sucht, stößt in der IT-Welt auf Schwierigkeiten. Neue Technologien und Businessprozesse oder überraschende Anforderungsänderungen – eine gewisse Komplexität gehört einfach dazu. Für viele IT-Verantwortliche stellt sie aber eine gewünschte Herausforderung dar. Nehmen die Unsicherheitsfaktoren allerdings überhand, kann Komplexität überfordern und lähmen. Mit steigendem Kontrollverlust werden anstehende Aufgaben dann als Problem wahrgenommen.
Bis zu einem bestimmten Grad kann dem methodisch begegnet werden: Hier können beispielsweise Kanban-Praktiken unterstützen, indem sie die Wertschöpfungskette visualisieren und die Anzahl gleichzeitiger Tickets pro Arbeitsschritt stark limitieren. Auch eine strikte Priorisierung von Projektzielen und der notwendigen Teilaufgaben bringt Übersicht und Klärung. Auch der Ansatz, das Projekt zu modellieren, um zumindest einige Mechanismen und Wirkungen antizipieren zu können, kann hier hilfreich sein. Aber all diese Methoden verfolgen ein eigentlich unmögliches Ziel: Sie wollen Komplexität reduzieren und in etwas Handhabbares umwandeln. Doch häufig sind IT-Projekte nichtlineare Systeme, deren Rahmenbedingungen sich laufend ändern können – damit gilt es umzugehen.
Agile Methoden als Chance begreifen
Anstatt alle Variablen tilgen oder ihre vielfältigen Auswirkungen vorhersagen zu wollen, sollte man lernen, mit groben Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Mehr Sicherheit ist nicht zu erwarten. Statt sich vor der Komplexität zu fürchten, hilft es, sie als spannende Herausforderung anzunehmen, denn komplexe Projekte folgen keinem rigiden Plan. Sie eröffnen viel Spielraum für kreative und flexible Lösungen. Zugegeben, Flexibilität fällt nicht immer leicht, aber schon das Agile Manifest von 2001 listet ein zentrales Prinzip auf: Änderungen sind stets willkommen, da sie die Qualität verbessern und Wettbewerbsvorteile mit sich bringen.
In der agilen Softwareentwicklung sieht man auch, dass eine Ursache für Komplexität zugleich Teil der Lösung sein kann: In dem Maß, wie gemischte und selbstorganisierte Teams manche IT-Leiter:in fürchten lassen, den Überblick und die Kontrolle zu verlieren, sind agile Teams bestens geeignet, verflochtene Projekte umzusetzen, denn diese Teams verfolgen kein zuvor im Pflichtenheft fixiertes Ziel. Sie entwickeln kleinschrittige Teillösungen und können somit schnell und flexibel auf Anforderungsänderungen reagieren. Ihr interner Mix aus verschiedenen Disziplinen bedeutet für die IT-Leitung, dass im Zweifelsfall jemand im Team von Einzelaspekten mehr versteht als er oder sie selbst. Das stellt kein Problem dar, sondern die Chance auf einen enormen Qualitätsgewinn.
Leadership für komplexe IT-Projekte
Die Kunst besteht darin, den partiellen Kontrollverlust anzunehmen und zu akzeptieren. Wenn sich Verantwortung auf mehrere Expert:innen verteilt, kommt das letztendlich mehr dem Ergebnis zugute als der Versuch, auch in fremden Fachbereichen Expertise zu beweisen. Dazu braucht es allerdings großes Vertrauen in die Fähigkeiten und den Kooperationswillen des Teams. Daher sind von IT-Leiter:innen neue Leadership-Fähigkeiten gefragt: Sie müssen ihre Mitarbeiter:innen so einsetzen, dass diese ihr Potenzial voll ausschöpfen und damit den größtmöglichen Beitrag leisten können. Sie werden Vermittler:in der Teammitglieder, der oder die Stimmungen und Konfliktpotenziale frühzeitig erkennt und im richtigen Moment motivierend oder deeskalierend eingreift.
Komplexe Projekte verlangen auch nach einem neuen Umgang mit Fehlleistungen und Irrtümern. Gerade weil sich Rahmenbedingungen unvorhersehbar ändern können, sind Fehler nicht zu vermeiden. Statt sie als Problem zu sehen und danach zu fragen, wer die Schuld trägt, sollten sich IT-Leiter:innen auf die Frage konzentrieren, warum Fehler passieren. Fehler lassen sie sich somit als Möglichkeit zur Verbesserung begreifen und bekommen eine positive Wendung für die Zukunft. Bisher ist der positive Umgang mit Fehlern eher unüblich, vielmehr gelten Fehler als Zeichen des Versagens. IT-Leiter:innen sollten daher ehrliches und menschliches Feedback geben – und auch für sich selbst einfordern. So können sie eine konstruktive Unternehmenskultur vorleben, die Lernpotentiale freilegt.